Evangelische
Kirchengemeinde
Wesel
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Wie geht es weiter mit unserer Kirche, Herr Präses?

Fragen an Nikolaus Schneider, erster Mann der Evangelischen Kirche im Rheinland - Exklusiv-Interview unserer Redaktion

Präses Nikolaus Schneider steht an der Spitze der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), die sich zwischen Emmerich und Saarbrücken erstreckt. Zu ihr gehören über 2,8 Mio Gemeindeglieder. Am 4. März besucht Schneider den Kirchenkreis Wesel, um hier die Kirche vor Ort „zu sehen, zu hören und zu lernen“, wie er sagt. Wenige Tage vor seinem Besuch stellte er sich Pfarrer Albrecht Holthuis zum Interview zu aktuellen Themen der Kirchenpolitik und Gemeindepraxis.

Gottesdienst um 10 Uhr – welche Gestalt und welche Zukunft?
Herr Präses, Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Gottesdienstformen – auch in Wesel. 
Neue Gottesdienstformen finden auch ihr (Nischen-) Publikum. 
Insgesamt aber geht letztendlich doch nur ein sehr kleiner Teil der Gemeindeglieder regelmäßig 
in den sonntäglichen Gottesdienst (2-5 Prozent). Gibt es aus ihrer Sicht erfolgversprechende 
Gottesdienstmodelle für die Zukunft? Was wird aus dem agendarischen 10-Uhr-Gottesdienst 
in naher Zukunft, wenn die treuen traditionellen Kirchgänger weniger werden?
 Präses Schneider: Der agendarische 10-Uhr Gottesdienst wird seine zentrale 
Bedeutung behalten. Denn wir brauchen eine Veranstaltung, die die ganze 
Gemeinde ansprechen kann. Dazu sehe ich zur Zeit keine Alternative.{406_praeses_schneider_klein.jpg}
Es gibt Untersuchungen darüber, welche Faktoren dazu beitragen, einen 
Gottesdienst „attraktiv“ zu gestalten. Davon können wir ganz praktisch 
lernen. Er soll generationenübergreifend angelegt sein, Menschen bei den 
verschiedenen Gottesdienstteilen beteiligen; eine die Menschen
ansprechende und sie mitnehmende Musik ist von ganz entscheidender 
Bedeutung und –das ist geradezu beruhigend zu lesen- eine klar strukturierte Predigt, die Menschen in ihren alltäglichen Befindlichkeiten anspricht, tröstet, ermutigt, ermahnt und auch biblisch weiterbildet: interessant, fundiert und auf der Höhe der Zeit. Hinzu kommt die bewusst einladend gestaltete Atmosphäre, die das Entstehen von Gemeinschaft fördert.
Die Entwicklung neuer Formen und Formate bleibt aber auch eine ständige 
Aufgabe.
Konsequenzen der Ganztagsschule für das kirchliche Leben
Immer mehr weitet sich der Unterricht an allen Schulformen in den Nachmittag aus, die 
Konsequenzen eines Angebot der Ganztagsschulen werden auch in Wesel immer deutlicher: 
Was wird aus dem nachmittäglichen Konfirmandenunterricht was aus den Angeboten der Jugendarbeit 
mit ihren Kindergruppen offenen Angeboten?Wie sollen Kirchengemeinden ihrer Meinung darauf reagieren 
und wie stehen Sie persönlich zu der Entwicklung von Ganztagsschulen?
Präses Schneider: Die Entwicklung zur Ganztagsschule wird weitergehen, 
ich halte das auch für richtig. Denn wir müssen nüchtern die veränderte Lage 
der Familien sehen. Gerade durch die Ganztagsschule kann die Voraussetzung
geschaffen werden, dass Kinder und Jugendliche optimal gefördert werden 
können und die unterschiedlichen Herkünfte die Bildungs- und 
Entwicklungschancen nicht mehr so festlegen wie bisher. Es geht also auch 
um Chancengerechtigkeit. Selbstverständlich müssen die Schulen personell 
und räumlich dafür entsprechend ausgerüstet sein, damit die mit der 
Einrichtung von Ganztagsschulen einhergehenden Hoffnungen und 
Versprechen eingelöst werden können.
Für die offenen Angebote der Gemeinden u.a. in der Kinder- und Jugendarbeit
bedeutet das die Herausforderung und auch Zumutung, mit den Schulen 
zu kooperieren, den „ganzen Tag“ mit ihren Angeboten zu bereichern. 
Ferner wird die Freizeitarbeit von steigender Bedeutung sein, ebenso das 
Angebot „geblockter“ Zeiten außerhalb von Schule.
Die Landeskirche ist im Gespräch mit der Landesregierung, um für den 
Kirchlichen Unterricht freie Zeiten zu garantieren. Das ist uns auch –
wie bisher- zugesagt.
 
Zukunft des Religionsunterrichts
Häufig ist zu hören, dass der Religionsunterricht beim Unterrichtsausfall proportional besonders leidet. 
Teilweise fällt der RU in einem Jahrgang komplett aus oder wird nur ein- statt zweistündig die Woche 
erteilt, teilweise wird er nicht mehr konfessionell sondern „ökumenisch“ (in gemischten Klassen) erteilt. 
Wie reagiert die Landeskirche auf diese Entwicklung?
 Präses Schneider: Der Religionsunterrichtet gehört zu den 
Tagesordnungspunkten, die bei Gesprächen mit der Landesregierung auf 
allen Ebenen immer angesprochen wird. Ich fürchte, dass das Thema 
„Unterrichtsausfall“ uns noch lange begleiten wird. Die genaue Problemlage 
im Kirchenkreis Wesel hoffe ich aber beim Besuch zu erfahren, etwa durch 
die Bezirksbeauftragten.
Zur Art der Unterrichtserteilung kann ich nur sagen: an schulorganisatorischen
Notwendigkeiten könne wir nicht einfach vorbeigehen. Die Konfessionalität 
der Lehrer und Lehrerinnen und des Curriculums sind der Anker der 
Konfessionsgebundenheit, die  Homogenität der Klasse erst in zweiter Linie.
 
Wildwuchs in der Konfirmandenarbeit?
In der Konfirmandenarbeit gibt es mittlerweile eine enorme Bandbreite an Unterrichtsformen, die sich 
von Gemeinde zu Gemeinde unterscheiden. Das reicht vom unterschiedlichen Eintrittsalter bis hin zu 
Unterrichtsdauer (ein- bis zweijährig, ein- bis zweistündig, wöchentlich, monatlich etc.) und –methoden. 
Will die Landeskirche diesen „Wildwuchs“? Wie will sie eine bestimmte Qualität des Unterrichts sichern
und festlegen?
Präses Schneider: Eine große Bandbreite der Arbeitsformen möchte ich 
nicht negativ bewerten, so lange 2 Voraussetzungen gegeben sind: zum 
einen müssen sie Ausdruck einer eingehenden Beschäftigung mit dem KU 
sein, durch die besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten der Unterrichtenden 
zum Zuge kommen und zum anderen muss das Presbyterium in diesen 
Prozess eingebunden sein und die Ergebnisse beschlussmäßig feststellen.
Ferner gilt: gewisse Standards sind vorgegeben, wie etwa die Zahl der zu 
unterrichtenden Stunden. Darüber hinaus bietet die Landeskirche 
Fortbildungen im Pädagogisch-Theologischen Institut in Bonn-Bad Godesberg
an und stellt durch das PTI Unterrichtsmaterialien zur Verfügung.
 
Stimmen die Horrorzahlen zur Gemeindegliederentwicklung?
Vor einiger Zeit hieß es, dass bis zum Jahr 2030 die Gemeindeglieder in der Ev. Kirche im Rheinland 
wahrscheinlich um ein Drittel zurückgehen werden und die Zahl der Pfarrstellen um die Hälfte 
gekürzt werden soll. Was ist dran an diesen Zahlen und wie sehr sollten das die Gemeinden in ihrer 
Zukunftsplanung berücksichtigen?
Präses Schneider: Die Zahlen sollten bei allen Planungsüberlegungen 
der Gemeinden Ernst genommen werden. Allerdings muss klar sein: 2030
ist ein Planungshorizont, konkrete Planungen sind nur in kürzeren, z.B. 
5-Jahres-Schritten sinnvoll. Die für 2030 prognostizierte Mitgliederzahl ist 
eine Hochrechnung aufgrund der demografischen Erkenntnisse, sie wird also
mehr oder weniger exakt, aber zumindest in dieser Dimension eintreffen. 
Die daraus abgeleiteten Einschätzungen des Kirchensteueraufkommens und 
der Zahl der Pfarrstellen müssen in kürzeren Abständen überprüft und 
fortgeschrieben werden. Vor allem ist darauf zu achten, dass die 
Entwicklungen in den Kirchenkreisen durchaus unterschiedlich sein können: 
es gibt nach wie vor wachsende Kirchenkreise in unserer Kirche.
 
Ökumene im Umbruch?
Viele Kommentatoren sehen durch die aktuelle Politik des Vatikan die Ökumene belastet. 
Welche Konsequenzen sind aus evangelischer Sicht zu ziehen, wenn die Kirchenhierarchie auf katholischer
Seite erzkonservative Gruppen, die massive Ressentiments gegen die protestantische Kirchen hegen, 
integriert? Und wie ist zu verfahren, wenn mittelfristig  ein Holocaust-Leugner wie Bischof Williamson 
nicht exkommuniziert wird?
Muss das Verhalten des Vatikans auch Konsequenzen für die lokale Ökumene haben?

 
Präses Schneider: Ökumenizität wird eine bleibende Grundausrichtung 
unserer Kirche sein. Unabhängig vom Verhalten unserer Schwesterkirchen 
können wir aufgrund unserer biblischen Verwurzelung gar nicht anders 
unseren Glauben leben.
Die aktuellen Vorgänge im Vatikan machen etwas deutlich, was wir im 
Grunde schon vorher wussten: die Organisation ist nicht perfekt und der 
Papst ist fehlbar. Ferner gehe ich nicht davon aus, dass die 
römisch-katholische Kirche wieder hinter die Theologie des 
2. Vatikanischen Konzils zurück oder die Konzilstexte im Lichte der 
vorkonziliaren Zeit interpretieren will. Ich vertraue auch den Erläuterungen 
der deutschen Bischöfe, die sich deutlich von den Anliegen und Äußerungen 
der Piusbruderschaft distanziert haben.
Die Mitgliedschaft von Holocaustleugnern in der Kirche ist wirklich ein 
Problem – auch für uns. Wie gehen wir mit solchen Menschen um, die sich 
zweifellos auch in unseren Reihen befinden – Ausschluss? Eines aber ist 
klar: sie wieder in die Kirche zurückzuholen, kann nicht unsere Intention sein.
Ökumene der Gemeinden vor Ort ist ein von diesen Fragen zunächst nicht 
berührtes Thema. Sie hängt nach meinen Erfahrungen entscheidend von den 
Menschen und deren ökumenischen Überzeugungen ab. Generell sollte 
gelten: so viel Ökumene zwischen den Gemeinden leben, wie nach wie vor 
möglich ist. Die dazu bestehenden Chancen sind noch lange nicht 
ausgeschöpft!
 
Neue Religiösität oder Traditionsabbruch?
Hin und wieder wird in den Medien eine „neue Religiösität“ konstatiert – häufig auch im Zusammenhang 
mit großen kirchlichen Ereignissen wie Weltjugendtag oder Kirchentag. Andererseits zeigen Umfragen, 
dass das Wissen um Religion und Kirche, auch der Glaube, im Schwinden sind. Wie schätzen Sie 
persönlich die Lage ein?
Präses Schneider: Neue Religiösität ist nicht gleichbedeutend mit neuer 
Kirchlichkeit! Und bei den neuen religiösen Bewegungen gibt es Formen, die 
wir klar und deutlich ablehnen und zurückweisen müssen, weil sie mit dem 
Evangelium von der befreienden und wohltuenden Liebe Gottes in Jesus 
Christus zu allen Menschen nichts zu tun haben.
Erfreulich aber ist ein neues Fragen, neue Bereitschaft, sich mit dem 
Glauben und den Kirchen auseinanderzusetzen. Unsere Aufgabe wird es 
sein, auf diese Situation so zu reagieren, dass Menschen zum Glauben an 
den Gott und zur Mitgliedschaft in unseren Gemeinden finden.
Diese neue Lage macht deutlich: Menschen sind mit „Spaß“ und „Party“, 
auch mit „alles ist möglich“ nicht mehr zufrieden. Mehr oder weniger 
bewusst ist ihnen klar, dass ihr Leben andere Fundamente und andere 
Wurzel braucht, aus denen ihnen Kraft und Vertrauen zuwachsen, um die 
Wechselfälle des Lebens bestehen zu können.
Hier kommen erst im Ansatz erkannte Aufgaben auf uns zu: unseren 
Glauben einfach und einladend erklären, Formen alltagstauglicher 
Frömmigkeit entwickeln, vermitteln und einüben, die dem Leben Struktur 
und Vergewisserung geben.
Bei aller Komplexität dieser Aufgaben in durch Umbrüche gekennzeichneten 
Zeiten: es ist auch eine Zeit voller Chancen und Möglichkeiten.
 
Calvin - 500. Geburtstag was bringt die Konfessionalität des Protestantismus?
Viele Gemeinden sind auf dem Papier reformiert oder lutherisch geprägt. Im 
Bewusstsein der meisten Gemeindeglieder ist dieses kaum vorhanden. In diesem Jahr feiern wir den 
500. Geburtstag des Reformators Johannes Calvin. Macht es noch Sinn, sich an der 
konfessionelle Prägung vergangener Jahrhunderte zu orientieren oder brauchen wir ein einheitliches 
evangelisches Denken über diese konfessionelle Standpunkte der Vergangenheit hinaus?
Präses Schneider:  Einer Rekonfessionalisierung möchte ich nicht das 
Wort reden. Aber: es ist wichtig, seine Geschichte zu kennen. Und dazu 
gehören auch die prägenden Persönlichkeiten der Reformationszeit. 
Identität entwickelt sich durch Aneignung und kritische Auseinandersetzung, 
durch Anwendung des geistlichen Erbes auf die Erfordernisse unserer Zeit.
Schließlich können wir auch mit Dank auf die grundlegenden Erkenntnisse 
der Reformatoren blicken, die bis heute nicht zu unterschätzende 
Auswirkungen haben: dass die Freiheit des Einzelnen nur in Verantwortung 
für seine Mitmenschen und die Schöpfung Gottes gelebt werden kann gehört 
dazu; auch die Einsicht, dass wir als Christenmenschen auf Augenhöhe 
mit einander umgehen und die Trennung zwischen Klerus und Laien 
aufgehoben ist. Ganz wichtig war die Erkenntnis, dass die Kirche kein 
Zwangsregiment führen darf, zwischen Staat und Kirche unterschieden 
werden muss und die Kirche keine staatliche Art haben darf. Die 
Entwicklung der „Presbyterial-Synodalen Ordnung“ gehört dazu, die 
Kirche von der Gemeinde her denkt – eine Ordnung der Freiheit für eine 
Kirche der Freiheit! 
 
Wesel/Düsseldorf 25.2.09